2008

Jahrestagung 2008 des Vereins für Sozialgeschichte der Medizin – Geschichte(n) von Gesundheit und Krankheit

Programm
Tagungsbericht

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Tagungsbericht

von

Patrick Lamprecht, Elena Taddei, Alois Unterkircher, Institut für Geschichte und Ethnologie (Universität Innsbruck)

Seit einigen Jahren bemüht sich der „Verein für Sozialgeschichte der Medizin“ mit Sitz in Wien, jungen Wissenschaftler/innen, die zu Themen aus dem Bereich der Medizingeschichte Österreichs bzw. mit Österreich-Bezug arbeiten, durch eine regelmäßig stattfindende Tagung eine Plattform für ihre aktuellen Forschungen zu bieten. Im Juli 2008 fanden nun diese „Geschichte(n) von Gesundheit und Krankheit“ zum dritten Male und erstmals in Innsbruck statt. An der dortigen Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität ist innerhalb des interdisziplinären Forschungsschwerpunktes „Schnittstelle Kultur: Kulturelles Erbe – Kunst – Wissenschaft – Öffentlichkeit“ im Jahre 2007 der Arbeitsbereich „Medikale Kulturen“ eingerichtet worden, der sich aus historischer wie kulturwissenschaftlicher Perspektive mit dem Forschungsfeld historischer und aktueller gesundheits- und krankheitsbezogener Vorstellungen und Handlungen verschiedener sozialer Gruppen sowie mit historischen Institutionen der „Fürsorge“ und „Behandlung“ befasst und deren Mitglieder diese Tagung mit organisiert haben.

MICHAELA RALSER (Innsbruck) eröffnete mit ihrem Vortrag „Vom eigentümlichen Schmerz im linken Bein zu den Nerven in großer Aufruhr“ die Tagung mit einer Analyse des Wandels der klinischen Psychiatrie um 1900 am Beispiel der Universitätsklinik Innsbruck. Die Referentin hielt fest, dass im 19. Jahrhundert in fast allen Ländern Europas eine neue Auffassung von psychischer Krankheit und eine schrittweise Medikalisierung sowie eine damit verbundene Spezialisierung in der Psychiatrie erfolgten. Die an der Innsbrucker Universitätsklinik 1891 gegründete „Abteilung für Nervenkranke“, deren Ziel weniger die Versorgung „Geisteskranker“ als vielmehr die wissenschaftliche Forschung basierend auf der somatischen und empirischen Naturwissenschaft war, legte ihren Schwerpunkt auf die “programmatische Cerebralisierung“: Dabei wurden Eugenik und Genealogie für die Ursachenforschung zunehmend relevant, der Aufbau eines didaktischen Apparats als erstrangiges Ziel ausgeschrieben. Die Patient/innen, so Ralser, wurden somit zum Objekt der wissenschaftlichen Forschung – ohne Rücksichtnahme auf die Pathologie. ANDREJ STUDEN (Ljubljana) beschrieb in seinem Vortrag den Umgang mit dem Phänomen „Alkoholismus“ innerhalb der slowenischen Psychiatrie. Begünstigt durch die verbilligte Herstellung des Branntweines avancierte übermäßiger Alkoholkonsum, der bereits im Vormärz als „tägliche Gewohnheit“ wahrgenommen wurde, im Verlauf des 19. Jahrhunderts für die Vertreter der Psychiatrie zur „Droge par excellence“. In medizinischen Texten und Enzyklopädien erfuhr der Alkoholiker ab der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Charakterisierung, indem er als krank und degeneriert bezeichnet sowie als Gefahr für Familie und Gesellschaft dargestellt wurde. Ärzte und Psychiater führten neben katholischen Predigern und deren „Moralschriften“ einen programmatischen Kampf gegen den Alkoholkonsum in Slowenien. Der Psychiater Bénédict Augustin Morel etwa veröffentlichte 1857 die Theorie der progressiven Degeneration, die zusammen mit den Schriften des in Graz wirkenden Psychiaters Richard von Krafft-Ebing auch in Slowenien eine große Anzahl an Anhängern fand. Der Referent stellte mit dem Arzt Dr. Fran Göstl und dem Psychiater Dr. Ivan Robida zwei slowenische Vertreter jener Denkrichtung, nach der Alkoholkonsum unterschiedliche Formen des Wahnsinns verursachen würde und somit auch gesundheitsschädliche Folgen für die Nachkommen haben könnte, ausführlicher vor.

Im zweiten Panel konzentrierten sich die Vorträge auf die NS-Euthanasie in Österreich. WOLFGANG WEBERs (Bregenz) Beitrag „Von Tätern und Opfern der NS-Euthanasie im Bregenzerwald“ strich die starke Zustimmung des Gesundheitspersonals für spezifische Strömungen innerhalb der NS-Medizin, die Parteibindung des medizinischen Personals und folglich den marginalen Widerstands im Vorarlberg der NS-Zeit hervor. Webers Nachforschungen ergaben, dass von den 137 im Jahre 1946 in Vorarlberg zugelassenen Ärzten 67 ehemalige Parteimitglieder der NSDAP gewesen waren. Von den zehn Gemeindeärzten im Bregenzerwald waren neun NSDAP-Mitglieder, bei den Hebammen zwei (von 22). An der Person Dr. Bruno Rhombergs, Primar im städtischen Krankenhaus von Dornbirn, führte Weber die Zusammenarbeit der Ärzte mit dem NS-Regime am regionalen Beispiel des Bregenzerwaldes vor: Rhomberg hatte bei Zwangsarbeiterinnen und Menschen mit körperlichen Behinderungen Zwangsabtreibungen durchgeführt; medizinische erwünschte Eingriffe des NS-„Euthanasie-Programms“ also, die nicht nur durch die bestehende Gesetzeslage im straffreien Raum angesiedelt waren, sondern an denen sich laut Weber neben Spitalärzten auch Hebammen und Gemeindeärzte beteiligt hatten.

OLIVER SEIFERT (Innsbruck/Hall) referierte über die „NS-Kinder-Euthanasie“ in Tirol. Nach Seiferts Einschätzung beschränkt sich die bisherige wissenschaftliche Aufarbeitung hauptsächlich auf die Zeit der „T4 Aktion“, was nicht zuletzt an der schwierigen Quellensituation zur „Kindereuthanasie“ liege. Untersuchungen zu diesem Thema müssten sich hauptsächlich auf Gerichtsakten stützen, in denen Kinder jedoch nicht erfasst wurden. Die Mühen einer solchen Spurensuche wurden am dargestellten Fall der behinderten Tochter des Schwazer Kreisleiters besonders deutlich: Zu diesem „Akt“ sind keine formalen Datenblätter erhalten, das Kind wurde auch nicht im Aufnahmebuch der Anstalt Niedernhart verzeichnet und lediglich der Fund des Sterbescheines gibt Auskunft über das Schicksal des Mädchens. Dabei warf der Referent viele Fragen auf: Warum das Mädchen etwa nicht vor der „Euthanasie“ geschützt wurde und wie ein NSDAP-Funktionär mit einem Kind „mit Behinderungen“ umging. BARBARA HOFFMANN (Innsbruck) beschäftigte sich mit der Situation der „Blinden Menschen in Österreich zwischen 1938 und 1945“. Während der NS-Zeit wurden blinde Menschen in die drei Klassen der Kriegsblinden, Zivilblinden und der Jüdischen Blinde eingeteilt. Wie die Referentin ausführt, kam unter Juden Blindheit statistisch betrachtet häufiger vor, was dem NS-Regime die „Erfindung“ des Krankheitsbildes der „Jüdischen Augenkrankheit“ erleichterte. Diese wurde gleichgesetzt mit Kurzsichtigkeit, Grauem Star und hysterischer Amaurose und fand bereits 1935 Eingang in den „Negativkatalog“. Ab 1938 wurden sowohl jüdische Zivil- als auch Kriegsblinde verfolgt, umgesiedelt, enteignet, sterilisiert, vertrieben oder getötet. Als wichtigste Einrichtung unterstützte das Blindeninstitut „Hohe Warte“ in Wien jüdische Betroffene in ihrem alltäglichen Leben. Diese 1872 gegründete Institution war die einzige „Erziehungs- und Ausbildungsanstalt“ für Blinde in Europa, sie wurde jedoch 1942 geräumt und deren Insassen nach Theresienstadt gebracht, wo sie den Tod fanden, insofern sie nicht durch die „British Jewish Blind Society“ gerettet werden konnten.

Im Vortrag „Der Teufel in Graz“ berichteten CARLOS WATZKA (Graz) und GERHARD AMMERER (Salzburg) von drei historischen „Exorzismusfällen“ in Graz. Ammerer konzentrierte sich in seinem Teil auf die allgemeine Geschichte des Exorzismus und stellte einen bisher noch wenig erforschten Text aus dem Jahr 1600/1601 näher vor: Dessen Autor Paulus Knor von Rosenrodt, Hofkaplan des Erzherzogs Ferdinand, beschrieb auf 399 Seiten drei Exorzismusfälle in Graz. Motive und Erzählmethode entsprächen laut Referent in den Schilderungen von fehlerhaften Taufen, heimtückischen Dämonen, dem Eingehen eines Teufelspaktes, von Besessenheit in Form von Aufblähungen und Konvulsionen oder von Ausscheidung von Fremdkörpern dem „Zeitgeist“. Carlos Watzka stellte am Beispiel des Exorzismus der Maria Eichhorn deren beschriebene Besessenheits-Phänomene in einen medizinhistorischen Kontext. Besagte Eichhorn lag zeitweise starr und regungslos im Bett und konnte nicht sprechen, andere Male war sie hyperaktiv und aufgewühlt – Krankheitszeichen, die man in modernen medizinischen Begrifflichkeiten gesprochen als „katatonisch-schizophren“ bezeichnen würde. Kurios erscheint in diesem Fall vor allem die Schilderung, dass nicht die „Besessene“ Halluzinationen hatte, sondern die Exorzisten, die „1.000 Dämonen im Zimmer“ sahen. MARIA HEIDEGGER (Innsbruck) sprach in ihrem Vortrag über die religiöse Seelsorge in der „Irrenheilanstalt“ von Hall in Tirol in den Jahren 1830 bis 1850. Religiöser Wahn oder Melancholie war bei der Landbevölkerung die häufigste Ausformung einer psychiatrischen Erkrankung. Heidegger fokussierte die Untersuchung auf drei Schwerpunkte: die Handlungsmöglichkeiten der Kapläne, die religiösen Aspekte in der Anstalt sowie der Zusammenhang zwischen religiösem Wahn und Psychiatrie. Die geistliche Seelsorge hätte eine nicht zu unterschätzende Rolle innerhalb des Alltags in dieser Anstalt gespielt, so Heidegger. In den Statuten war der Aufgabenbereich des dem Direktor untergeordneten Kaplans genau definiert: Sein Tätigkeitsbereich in Hall war auf „Irre“ beschränkt, er hielt Messen ab, unterrichtete in deutscher und italienischer Sprache und war zuständig für religiöse Praktiken. Der Geistliche sollte bei der Heilung der PatientInnen mitwirken und diese fördern, die Verwandten informieren, sich jedoch nicht in medizinische und therapeutische Praktiken einmischen. Die Referentin arbeitete insbesondere die Biographien der zwei Kapläne Raffeiner und Ruf, die im Zeitraum zwischen 1830 und 1850 in Hall wirkten, präzise heraus und stellte die beiden Akteure in den Kontext der allgemeinen Entwicklung der Anstalt in der Phase des Vormärz.

ELISABETH LOBENWEIN (Lienz) konzentrierte sich in ihrem Vortrag über das Mirakelbuch B von Maria Luggau in Kärnten (1740-1800) auf den Zusammenhang zwischen Medizin und Wunder und ging auf das für diesen Wallfahrtsort charakteristische „Anliegen“ des Taufwunders genauer ein. Der Tod ohne Taufe repräsentierte für das Neugeborene den Eintritt in den „Kindergarten der Hölle“, das Kind durfte nicht auf einen Friedhof begraben werden. Die im Buch enthaltenen 660 Berichte von der Heilung körperlicher und seelischer Gebrechen, darunter eben auch 19 Taufwunder, entstanden in der Blütezeit der Wallfahrt. Weiters befinden sich im Mirakelbuch Berichte von Fällen psychiatrischer Erkrankungen, die mit Geistern und Dämonen in Verbindung gebracht wurden. Obwohl die Berichte wenig Auskunft über den gesundheitlichen Zustand der Bevölkerung geben, kann darin der Umgang mit Geisteskrankheiten nachgezeichnet werden, etwa wenn „psychisch kranke“ Menschen angekettet oder eingesperrt wurden. Hilfesuchende, die oft keine Unterstützung bei Ärzten und Heilpersonen fanden, suchten ihr Heil in einer Wallfahrt und in der Anrufung Mariens. MARINA HILBER (Innsbruck) berichtete über die ab 1830 sich etablierende Geburtshilfe am medizinisch-chirurgischen Lyzeum in Innsbruck. Ihrer Analyse liegen dabei jene „Geburtsberichte“ als Quellen zugrunde, die Wundärzte, Geburtshelfer und Hebammen im Zuge ihrer praktischen Ausbildung in den Kreiszimmern verfassen mussten. Da zu dieser Zeit noch keine eigentliche geburtsklinische Abteilung existierte, sei, so Hilber, bei den Einrichtungen zwischen Spital und ambulanter Versorgung unterschieden worden. Im Spital brachten vor allem ledige und jüngere Frauen ihre Kinder zur Welt, wohingegen verheiratete Frauen meist ambulant versorgt wurden. Als theoretische Grundlage diente den Ärzten das „Handbuch der Geburtshilfe“ (1818) von J. H. Ludwig Friedrich von Froriep. Froriep verschrieb sich der natürlichen Geburtshilfe, Instrumente sollten nur in Notsituationen zum Einsatz kommen. Bei Spitalgeburten waren neben den Ärzten auch Auszubildende anwesend. Abschließend betonte die Referentin die Wichtigkeit einer kritischen Lesung dieses Quellentyps: So werde in den Berichten nicht auf den Zustand der Frau nach der Geburt, die Dauer des Wochenbettes, die Säuglingspflege, oder auf das Stillverhalten eingegangen. Die Quellen würde auch keine Berechnung der Sterblichkeit erlauben. In der Diskussion wurde deutlich, dass ein Vergleich zwischen dem Findelhaus und der Gebärklinik „Alle Laste“ in Trient notwendig wäre, wo aufgrund der häufigen Rachitis-Erkrankungen viele Frauen an einer Beckenverengung litten und somit vermehrt Instrumente zur Verwendung kamen.

Die Beiträge des zweiten Veranstaltungstages konzentrierten sich auf Fragen der Gesundheitsdiskurse bzw. Gesundheitserziehung, auf Eugenikdiskurse und auf das Thema „Wissen und Tod“. CORNELIA BOGEN (Halle) erläuterte am Beispiel der Ärzte und Publizisten Frank, van Swieten und Moritz die Reform des österreichischen Gesundheitswesens im 18. Jahrhundert. Der Leibarzt Maria Theresiens, Gerard van Swieten, setzte Vorschläge der Kaiserin um und vermochte es, den medizinischen Unterricht zu reformieren. Die Lehre erfolgte nun direkt am Krankenbett – Beobachtung und Empirie standen im Mittelpunkt. Dies sollte einerseits der ärztlichen Praxis und andererseits dem Wohl der Patient/innen dienen. Johann Peter Frank übernahm als Direktor die Leitung des Wiener Allgemeinen Krankenhauses. Generelles Ziel, so Bogen sei die Reformierung des staatlichen Gesundheitswesens auf der Grundlage (natur-)wissenschaftlicher Methoden gewesen. Die Medizin wurde somit zur Angelegenheit des Staates. Unter Karl Philipp Moritz entstand das „Gnothi Seauton“, ein Magazin zur Erfahrungsseelenkunde und gesundheitlichen Aufklärung des Bürgertums. Wichtige Ziele der drei Aufklärer waren die Bekämpfung des „Aberglaubens“, der Einzug der „Vernunft“ und die Anwendung von medialen Strategien zur Verbesserung der medizinischen Situation. Populärwissenschaftliche Zeitschriften und Bücher sollten zur Aufklärung beitragen und gefährliche medizinische Praktiken anzeigen. Vor allem Frank richtete sich gegen den „gefährlichen Aberglauben“ und den Vampirismus, prangerte Ärzte und Betrüger an, forderte die Überprüfung medizinischer Praktiken und eine „medizinische Policey“. Über „Sokratische Erzählungen und andere Medien der Gesundheitserziehung um 1800“ in der Steiermark ging es im Vortrag von ANDREAS GOLOB (Graz). Während der Aufklärung beschäftigten sich Bücher, Zeitschriften und Theaterstücke ausführlich mit Aspekten der Gesundheitserziehung. Als Vorbild diente die Reformierung des deutschen Schulwesens in Böhmen unter Ignaz Richard Wilfing sowie die neue Entwicklung in Salzburg durch Franz Michael Vierthaler. Schwerpunkte wie Gesundheits- und Körpererziehung als Teil der Naturlehre standen im Mittelpunkt der Schulerziehung. In der Steiermark konnten in den 1790ern insbesondere drei Vermittlungsmethoden ausgemacht werden: der Katechismus, die Sokratischen Erzählungen und gezielt ausgewählte Schreibübungen, alle drei mit dem Ziel der „kindergerechten“ Vermittlung von gesundheitlichem Wissen.

PETER F.N. HÖRZ (Tübingen) widmete sich in seinem Beitrag dem wenig beleuchteten Thema der Zirkumzision. Obwohl die Beschneidung in den westlichen Gesellschaften sehr häufig vorgenommen wird, wurde die medizinisch-therapeutisch begründete Operation in der Forschung bislang wenig beachtet. Mit der Begründung der modernen Schulmedizin im 19. Jahrhundert wurden die ersten Eingriffe durchgeführt, ebenso lange werden Vorhautmanipulationen in der Medizin bereits kritisch diskutiert. Im Laufe des 19. Jahrhunderts hätten die Befürworter darin einen notwendigen Eingriff zur Prävention von „Krankheiten“ wie Syphilis, Phimose und in späterer Folge von Bettnässen und Masturbation gesehen. Der amerikanischen Arzt Peter Charles Remondino sah in der Beschneidung ein Heilmittel vor allem gegen sexuell übertragbare Krankheiten, sexuelle „Verirrungen“ und außerdem gegenüber „the negro rape problem“, das die Debatten über eine angeblich höhere Vergewaltigungsbereitschaft afroamerikanischer Männer bestimmte. Die Propaganda war in den USA dermaßen erfolgreich, dass der Eingriff zur Prophylaxe bei Säuglingen routinemäßig durchgeführt und zum Teil in der Gesundheitspolitik aufgenommen wurde. Die Kritik der Gegner, vor allem seit den 1990er-Jahren, sowie normativ-politische Maßnahmen tragen noch heute dazu bei, dass die Zirkumzision in Europa nie zu einem Massenphänomen wurde (in Österreich sind 14 Prozent der Knaben beschnitten). Hörz ging in der Diskussion auf die Frage des unterschiedlichen Gebrauchs der Begriffe Beschneidung (religiös) und Zirkumzision (medizinisch) ein.

Eine „klassische“ Arztbiographie präsentierte ALFRED STEFAN WEISS (Salzburg) in der Nachmittagssektion mit seinem Vortrag über den Mediziner Dr. Johann Hartenkeil (1761-1808), der nach Abschluss des Studiums im Jahr 1787 durch Empfehlung seines Lehrers Dr. Caspar von Siebold als – schlecht bezahlter – Leibchirurg des Salzburgers Fürsterzbischofs Hieronymus Graf Colloredo nach Salzburg kam. Hartenkeil verbrachte hier seine „Freizeit“ mit der Ausbildung von Wundärzten, Hebammen und Geburtshelfern und unternahm 1787 den Versuch, die chirurgische von der medizinischen Abteilung im städtischen Krankenhaus zu trennen – ein Unterfangen, das zunächst am Protest der alteingesessenen Ärzte scheiterte. Im Jahr 1789 initiierte Hartenkeil gemeinsam mit seinem Kollegen Franz Xaver Mezler die Herausgabe der medizinischen Zeitschrift „Medicinisch-chirurgische Zeitung“ mit dem dezidierten Ziel, medizinisches Fachwissen möglichst „vorurteilsfrei“ zu verbreiten. Nach der Jahrhundertwende gelang ihm die Einrichtung einer medizinischen Fakultät an der Universität Salzburg, die jedoch bereits 1807 wieder aufgelöst wurde. 1806 wurde Hartenkeil Direktor des chirurgischen Studiums und Protomedikus für Salzburg. CASIMIRA GRANDIs (Trento) Vortrag „Il suicidio nel Trentino asburgico“ behandelte das Thema Selbstmord in Trient von 1816 bis 1918. Im 19. Jahrhundert wurden zum ersten Mal Sterbestatistiken geführt, die jedoch eine problematische Quelle darstellen, da der Tod durch Selbstmord gerade in Bezug mit der geistigen Verwirrung durch die in den Totenscheinen eingetragene Sterbeursache „Pellagra“ oft „vertuscht“ wurde. Die Krankheit Pellagra (Erkrankung, die durch Mangel an Vitamin B3 ausgelöst wird und zu Schädigungen des Gehirns führt) sorgte in dieser Zeit im Raum des heutigen Trentino für Verarmung und starke Abwanderung, die zusammen mit den irredentistischen Bestrebungen die damalige Bevölkerung des Trentino nachhaltig prägten. Für Grandi hätten Pellagra und Alkoholismus daher die „Türen der Irrenhäuser“ geöffnet, indem eine „Lösung“ der Probleme an die „Irrenanstalten“ delegiert wurde. Wahnsinn und Armut waren somit stark miteinander verbunden. MARTIN GÖGELE (Bozen) stellte im Rahmen seiner MIKROS-Studie die „Alterspezifischen Todesursachen im alpinen Raum am Beispiel dreier Gemeinden des Vinschgaus“ vor. Ziel der MIKROS-Studie ist es, die genetischen und umweltbedingten Krankheiten in Mikroisolaten über mehrere Generationen zu erforschen. Neben der Auswertung der Kirchenbücher wurde die DNA von 1.200 Probanden aus den drei Südtiroler Gemeinden Langtaufers, Stilfs und Martell labortechnisch untersucht. Zur Bestimmung der Krankheiten oder Todesursachen wurden die Sterberegister der Kirchenbücher herangezogen. Neben der Erstellung von Sterbetafeln und des Mortalitätsrisikos sollten die Todesursachenkategorien nach Alterskategorien differenziert ermittelt werden. Das Projekt soll neue Erkenntnisse über die epidemiologische Entwicklung im alpinen Raum bringen. Bei der Diskussion wurden die ethische Brisanz des Themas und der angedeutete Selbstzweck der Studie kritisch hinterfragt.

Die Konferenz wurde mit dem Vortrag von JANEZ POLAJNAR (Ljubljana) „Eugenics and its efforts to adopt Sterilization Act in Slovenia“ abgeschlossen. Der Referent gab den ZuhörerInnen Einblick in die allgemeine Entwicklungsgeschichte der Eugenik, ehe er näher auf deren Rezeption in Slowenien zu Beginn des 20. Jahrhunderts einging. Als einen wichtigen Verfechter der Eugenik nannte er den Anthropologen Dr. Božo Škerlj vom Institut für Hygiene in Ljubljana, dem er als seinen größten „Erfolg“ die Verabschiedung des „Sterilization Act“ zusprach. Polajnar betonte in seinen Ausführungen, dass dem Begriff „Eugenik“ spätestens seit dem Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland und dessen Rassengesetzen eindeutig eine starke negative Note anhaftete. Škerlj jedoch wehrte sich gegen die zunehmend missbilligende Konnotation dieser Wissenschaft und unterstrich die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs, die dieser bei seinem „Erfinder“ Francis Galton hatte. Eugeniker, so führte Polajnar weiter aus, hätten die Missachtung der menschlichen Würde bewusst in Kauf genommen, um zu garantieren, dass die Gesellschaft letztendlich nur aus „hochwertigen“ Individuen bestünde.

Sowohl die Vielfalt der vorgestellten Projekte als auch die rege Teilnahme an der Veranstaltung zeigte, dass die in den späten 1970er-Jahren begonnene Erweiterung des Fachs Medizingeschichte durch Methoden und Fragestellungen aus der Sozialgeschichte, den Kulturwissenschaften sowie der Zeitgeschichte auch in der österreichischen Medizingeschichtsschreibung „angekommen“ ist. Zu dieser Neuorientierung der traditionellen Medizingeschichte in Österreich haben nicht zuletzt die zahlreichen medizinhistorischen Diplomarbeiten, Dissertationen und universitären Forschungsprojekte, über die auf dieser Tagung vielfach referiert wurde, beigetragen. In diesem Sinne darf die Fortsetzung dieser Reihe, wofür als nächste „Station“ 2009 Vorarlberg angedacht wurde, mit Spannung erwartet werden.

Zitation

Tagungsbericht: Geschichte(n) von Gesundheit und Krankheit, 03.07.2008 – 04.07.2008 Innsbruck, in: H-Soz-Kult, 26.09.2008, <http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-2268>.
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